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Bedeutung der Schulbauarchitektur für das Lernen

Wer jemals in der Staudte–Verfilmung Heinrich Manns "Untertan" die Szene gesehen hat, wie der kleine Heßling als Erstklässler vor der Türe des Wilhelminischen Schulgebäudes steht und kaum an die Klinke dieses riesigen, furchteinflößenden Portals reicht, um in die Schule zu kommen, der versteht, dass man mit dieser Ästhetik die Schüler anherrschen wollte: "Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren!"

1. Die Hirnforschung belegt die allgemeine Erfahrung, dass kreatives Lernen nur in angstfreier Atmosphäre möglich ist. Zur Schaffung einer solchen angstfreien Atmosphäre kann die Schulbauarchitektur beisteuern:

  • Identifikationsförderndes Äußeres
  • Funktionale und angenehme Lernorte und Lernflure
  • Flexible Möglichkeiten für verschiedene Lernformen: Frontal-, Gruppenunterricht oder Unterricht im Kreis.
  • Orte für individuelles Lernen und
  • Orte der Kommunikation
  • Transparenz und Erkennbarkeit der räumlichen Strukturen
  • Ansprechende Materialien und Farben
  • Identifizierbare Örtlichkeiten: Wo bin ich und wohin muss ich?
  • Akustische Dämpfung und
  • Funktionierende Haustechnik usw.
  • Partizipation: angemessene und rechtzeitige Einbeziehung der zukünftigen Nutzer in die Planung.

2. In seinem Buch "Glück und Architektur" (2006) führt Alain de Botton aus:

"Auch wenn das Haus für so manches Problem seiner Bewohner keine Lösung anzubieten vermag, lassen seine Zimmer doch ein Glück erahnen, zu dem Architektur ihren entscheidenden Beitrag geliefert hat" (S.11).

"Im psychologischen wie im physischen Sinne brauchen wir ein Zuhause als Kompensation zu unserer Verletzlichkeit" (S. 107), aber auch "Schöne Häuser scheitern nicht nur als Garanten des Glücks, sie müssen sich auch vorwerfen lassen, dass es ihnen durchaus nicht gelingt, den Charakter ihrer Bewohner zu verbessern"(S. 18) und "Bauwerke mögen eine moralische Botschaft zum Ausdruck bringen, nur fehlt der Architektur die Kraft, sie auch umzusetzen. Statt anzuordnen bietet sie Andeutungen" (S. 20).

3. Orte als Anker für Erinnerungen und komplexe Gedanken

Eine differenzierte Raumgestaltung unterstützt die Ortung und Ordnung von Gedanken. In einem eher amorphen, seriellen Schulgebäude haben die Gedanken und Gespräche keinen konkreten und unterscheidbaren Ort.

In ihrem Buch "Erinnerungsräume" (1999) präzisiert A. Assmann diese Frage:

"Können Orte selbst zu Erinnerungsträgern werden?" Sie zitiert den Satz von Cicero: "Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt".

Nun handelt es sich bei der Schule fraglos um keine mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladenen Gedenk– oder Gedächtnisorte. Vielmehr geht es darum, die Orte für die Schüler und Lehrer so zu gestalten, dass sie mit subjektiver Erfahrung aufgeladen und differenziert werden können.

4. Die Architektur gehört zu einer komplexen Sinnes- und Lernerfahrung

Sie zählt zu den vielen unbewussten Lernerfahrungen, die uns direkt und indirekt beeinflussen. Gegenüber den scheinbar rationalen und digitalen Medienerfahrungen ist sie eine mindest gleichwertige Erfahrungswelt.

5. Architektur als Träger von Kultur und gesellschaftlichem Ausdruck

Durch die Art der Gestaltung, durch den Stil erzeugt die Architektur eine Ausdrucksqualität, mit der sich frühere Generationen, Epochen mitteilen. Auch wenn die Architektur auf andere Menschen und andere Wahrnehmungsstrukturen trifft, bleibt der Rest einer Botschaft von Menschen aus einer anderen Zeit.

Frage: Bewirken die "Dicke Säule" und gebogenen Stahlträger in der Regine–Hildebrandt–Gesamtschule Ausdrucksqualitäten wie sie in mittelalterlichen Gebäuden existierten?

6. Über die Versprachlichung der jeweiligen Raumvorstellungen prägt die Architektur ganz wesentlich das vorherrschende Denken. Die Architektur ist eine "tragende Säule" der Sprache und Kultur.

Die Untersuchung der Sprache ist seit jeher ein weites Feld für Philosophen und Forscher (Herder, Humbold, Cassierer). Mit der Sprache entwickeln sich der soziale Austausch und das Denken. Daher waren und sind die Entstehung und Bedeutung der Sprache für Philosophen, Soziologen und andere Wissenschaftler ein wichtiges Feld der Lehre zur menschlichen Erkenntnis.

Die menschliche Gebärde gehört zum Anfang der Sprache. Die Hand, der menschliche Körper sind sicher ihre primären Werkzeuge. Erst später wird der Raum, die menschliche Behausung zum Gegenstand und Mittel der Versprachlichung.

Trotzdem ist die Architektur schon früh "Baustein" für die sprachliche Verständigung: Die frühen Formen baulicher Gestaltung dokumentieren die Abgrenzung des Menschen von der vorgefundenen Natur. Die Elemente dieser Architektur werden Grundbestandteile der Sprache und diese Sprache wiederum prägt die Architektur.

Über die Versprachlichung der jeweiligen Raum–vorstellungen prägt die Architektur ganz wesentlich das vorherrschende Denken. Die Architektur ist eine "tragende Säule" der Sprache und Kultur.

Was bedeuten diese Selbstverständlichkeiten für unsere Fragestellungen zur Architektur des Schulbaus?

Sprache und Architektur haben gemeinsame Wurzeln und haben symbiotische Entwicklungen. Die Architektur prägt die Sprache und wird von dieser beeinflusst. Architektur wird im Wesentlichen so betrachtet wie die vorherrschende Meinung, die Sichtweise auf die Architektur vorgibt.

Trotzdem ist die Architektur in begrenztem Maße auch autonom. Auch wenn z.B. Wettbewerbsauslobungen problematische Lösun-gen hochloben können: eine noch so brillante Architekturbeschreibung macht aus einer Hunde–hütte nicht für alle Betrachter einen Palast.

Die Architektur verfügt über räumliche und symbolische Mittel um den Menschen zu beeindrucken. Darüber wurden schon immer und besonders aber seit dem 19. Jahrhundert vielfältige Betrachtungen und Forschungen durchgeführt. Im 18. Jahrhundert begann E. Burke mit seinen Betrachtungen über das Erhabene und das Schreckliche. Darin führt er unter anderem aus, wie der große Raum der Berge den Menschen das "Erhabene" nahe bringt und erschreckt im Gegensatz zu dem Schönen, das den Menschen erfreut und belebt.

Für unser Thema Schulbau wird deutlich, dass Architektur ein wichtiges Thema der Bildung Heranwachsender ist. Vorbildhafte Architektur kann den Heranwachsenden positiv bilden – auch über die eigentliche Förderung von Lernprozessen hinaus.

7. Architektur als Hintergrund

Architektur – insbesondere beim Schulbau – wird immer als Hintergrund wahrgenommen. Dieser "Hintergrund" wird in der Regel unbewusst wahrgenommen. Erst wenn krasse Abweichungen vom Üblichen vorliegen, schaltet sich das Bewusstsein ein und Urteile positiver oder negativer Art werden gefällt. Die Ausnahme ist die Betrachtungsweise von geschulten Fachleuten oder von Schülern, die zusammen mit den Lehrern oder im Rahmen einer Partizipation bei der Planung das Thema Architektur bewusst ansprechen. Dieser Sachverhalt von der Architektur als Hintergrund ändert nichts an der zuweilen großen Bedeutung des gebauten Raumes.

8. Lernen, Architektur und Aufmerksamkeit

Zur Bedeutung des Raumes heißt es bei E. Kandel (Auf der Suche nach dem Gedächtnis, S. 333):

"Bei allen Lebewesen, von Schnecken bis Menschen, ist das Erkennen des Raums von zentraler Bedeutung für das Verhalten. Dazu John O'Keefe: "Der Raum spielt eine wichtige Rolle für unser gesamtes Verhalten. Wir leben darin, bewegen uns durch ihn hindurch, erkunden ihn, verteidigen ihn". Die Raumwahrnehmung ist nicht nur ein entscheidendes, sondern auch ein faszinierender Sinn, weil er anders als die anderen Sinne nicht von einem speziellen Sinnesorgan analysiert wird."

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